Weiße Männer, weiße Flecken

In Belgien hat der Kolonialismus noch ein Zuhause. Das Königliche Museum für Zentralafrika in Tervuren ist gerade frisch renoviert worden. Eine Reise ins Herz der Finsternis.
Das Letzte, was ein europäisches Land in diesen Zeiten haben möchte, ist ein Kolonialmuseum. Es ist ja schon schlimm genug, wenn man ein Ethnologisches Museum hat. Schuld, Scham und Schande überkommen den modernen Europäer, der auf seinen ererbten Schätzen sitzt.
Warum haben wir so viel von den Völkern der Welt und sie nichts von sich? Müssten wir das nicht langsam mal alles zurückgeben? Der Restitutionsreport, den Bénédicte Savoy und Felwine Sarr dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron im November vorgelegt haben, macht einen radikalen Vorschlag: Alles, was in kolonialen Kontexten erworben wurde, sei als unrechtmäßig erworben anzusehen und müsse dringend restituiert werden.
Guido Gryseels sieht das ein bisschen anders. Der Belgier ist Herr einer Afrikasammlung mit 125.000 Stücken, alles gut dokumentiert, wie er sagt. Nun ist sein Museum neu eröffnet, nach fünf Jahren Renovierung. Die Welt, sie scheint seitdem eine andere geworden zu sein. Muss man alles neu denken? „Man kann die Situation in Afrika nicht verallgemeinern“, sagt Gryseels, wenn man ihn auf den Restitutionsreport anspricht. Die ganze Debatte über Restitutionen gehe im Moment vor allem von der afrikanischen Diaspora aus, von afrikanischen Museumsleuten habe er da noch nicht viel gehört. Und überhaupt: Er hält nicht viel davon, alles über einen Kamm zu scheren.
„Ich stimme dieser Argumentation nicht zu“, sagt er über die pauschale Annahme, es gebe keinen rechtmäßigen Erwerb im Kolonialregime. „Es ist nicht wahr, dass man nur genommen hat und nichts zurückkam. Viele Leute erhielten Jobs, wurden dafür bezahlt, Infrastruktur wurde aufgebaut. Ich bin der Erste, der sich vom Kolonialismus als System distanziert. Aber das Argument, man könne in einem kolonialen Kontext nichts legal erwerben, dem stimme ich nicht zu.“
Seit 2001 leitet Gryseels das Königliche Museum für Zentralafrika. Begründet wurde es von Leopold II. von Sachsen-Coburg und Gotha, dem Gründer von Belgisch-Kongo. Der amtierende König kam nicht zu Eröffnung, zu heikel erschien ihm wohl das Erbe seines berüchtigten Vorfahren. Dabei sieht es fantastisch aus im KMZA. Das 1910 errichtete Haus im noblen Tervuren bei Brüssel präsentiert eine Mischung aus Safari-Ästhetik und Belle-Époque-Herrlichkeit. Die weiten, hohen Hallen, der darin verbaute bunte Marmor, die riesigen Karten des Kongo-Beckens mit den Pfaden seiner heroischen Entdecker, das alles glänzt wie neu.

Die Architektur stammt von Charles Girault, dem Schöpfer des Petit Palais in Paris, und wenn man auf den nunmehr 11.000 Quadratmetern herumwandert, unter der ausgestopften Giraffe, vorbei an den in Gläsern eingeweckten Fröschen und präparierten Affen, dann steht man bald staunend vor den afrikanischen Kunstwerken, von denen das kleine Königreich Belgien schiere Unmengen besitzt und die es, ginge es nach Savoy und Sarr, wohl auch alle einmal zurückgeben müsste.
Er wäre, sagt Gryseels, unter Umständen zu Restitutionen bereit, es gebe aber bisher keine Forderungen aus dem Kongo. Vielleicht wenn das neue Nationalmuseum in Kinshasa fertig sei, dann werde man sehen. Belgien, scheint es, geht nicht in Sack und Asche wegen seiner Kolonialvergangenheit. „Wenn man sie heute auf der Straße fragte“, sagt Gryseels, „dann würden neun von zehn Belgiern sagen, dass die Kolonialzeit auch positive Seiten hatte.“
Sein Haus, das auch eine Forschungseinrichtung ist, wird in den kommenden Jahren viel Aufmerksamkeit bekommen. Fünf Jahre hat man an der Verwandlung der kolonialen Schatzkammer in ein reflektiertes modernes Museum gearbeitet. Das Erbe musste dabei erhalten werden, auch die Vitrinen. Dass man eine Ausstellung auf dem Stand von 2018 mit den Möbeln von 1910 macht, kommt heute nicht so oft vor.
Der Zeitgeist fordert, die Statuen muskulöser Schwarzer, die mit ihren malerisch verdrehten Gliedmaßen ein Jahrhundert lang belgische Familien beim Sonntagsausflug erfreuten, samt und sonders heimzuschicken. Hier hat man sie mit den herrischen Büsten der Kolonisatoren in ein schnödes Metallregal gestellt, unten im Keller, der durch den Umbau zum Entree geworden ist. Man distanziert sich von der rassistischen Kolonialästhetik, aber man zeigt eben auch, dass man sich distanziert: Die Skulpturen sind also weiterhin zu sehen. Dies sind die einigermaßen komplizierten Operationen, die Kuratoren heute ausführen müssen, wenn sie zwischen heute und früher vermitteln wollen, wie Unterhändler in einem Krieg.
Die neue ständige Ausstellung, die von Natur und Bodenschätzen des Kongo über die zentralafrikanische Flora und Fauna bis zur Alltagskultur im Kongo der Gegenwart vieles abdeckt, und zwar durchaus gelungen, diese neue Dauerausstellung findet in einem Museum statt, das der 66 Millionen Euro teure Umbau selbst zu einem Ausstellungsstück gemacht hat. Der Rundgang beginnt nicht länger im Altbau, sondern in einem neu errichteten Glaskasten mit weißen Böden, weißen Wänden, weißen Treppen. Hier ist Platz für Kasse, Garderobe, Restaurant und Buchladen. Das alte Haus sieht man durch die großen, rechtwinkligen Fensterfronten, als betrachte man ein Foto. Hinein kommt man aber nur durch einen Tunnel, der beide Gebäude miteinander verbindet.
Grund, sich ein solches Museum zu gönnen, gibt es in Belgien. „Die Kolonialzeit wird nicht in der Schule gelehrt“, sagt Direktor Gryseels, dabei gibt es in so gut wie jeder belgischen Familie jemanden, der im Kongo gearbeitet hat.“ Achtzig Prozent der Publikationen, die das Afrikamuseum herausgegeben hat, stammten von weißen Autoren. Die afrikanische Perspektive fehle bislang weitgehend, das soll nun anders werden. Es gibt „AfricaTube“, eine virtuelle Bibliothek über das digitale Afrika von heute, die sich an Jugendliche richtet, es gibt zeitgenössische afrikanische Kunst und einen Raum der Diaspora, in dessen Gestaltung und Programm sich in Belgien lebende Afrikaner einbringen können.
Der von Glas und Stahl gerahmte Blick bewirkt eine Distanzierung. Man kann um den Bau herumlaufen, aber von außen nicht mehr hineinsehen. Entweder man ist durch den Tunnel in die Ausstellung gegangen oder man steht im Park. Innen und außen werden voneinander gelöst, es gibt Brüche und betonte Schwellen. Der „Saal der Krokodile“ etwa hatte sich von 1910 bis 2013 nicht verändert. „Das exotische und romantisierende Bild von Afrika“, das hier vermittelt werde, will das Museum unterminieren, indem es eine kniehohe Sperre aus Glas einbaute. Dadurch kann man auf dem Rundgang hineinsehen, zum Betreten muss man aber einen kleinen Umweg nehmen. Man sieht dort eine dioramahafte Inszenierung des Exotischen, es ist ein wenig wie ein Wes-Anderson-Film.
Es geht an einem solchen Ort ja nicht nur um Aufarbeitung, es geht auch um Geschichten, um Verlockungen und Träume. Die forschen postkolonialen Rückabwickler, die am liebsten jedes Straßenschild und jede Lebensmittelverpackung um die unliebsamen Spuren einer bösen Vergangenheit bereinigt sehen würden, sie erfassen die psychologischen Antriebskräfte nicht, die zum Einverleiben des Kontinents durch seinen viel kleineren Nachbarn führten. Afrika, das war im späten 19. Jahrhundert eben auch die letzte Grenze, der letzte weiße Fleck jenseits der Antarktis.
Das späte 19. Jahrhundert war das Zeitalter des spinnerten weißen Mannes, der sich in Tropen und Wüsten beweisen wollte, eine Epoche der riesigen, von der Vorstellung zu erschließenden Räume, die Zeit von David Livingstone und Morton Stanley, von Joseph Conrad und Jack London. Der märchenhafte Charakter des Kolonisierens darf in Tervuren weiterleben, eingerahmt von der nüchternen Gegenwart, ergänzt um seine Schattenseiten. Er, der weiße Mann, ist selbst ein Kuriosum geworden, ein Ausstellungsstück.
Belgien ist wie Deutschland eine späte Kolonialmacht gewesen. Das Buch „Kongo“ von David Van Reybrouck von 2011 erzählt diese Geschichte. Leopold II., der Gründer des Afrikamuseums, kaufte ab 1876 in Zentralafrika riesige Landstriche auf. Sie gehörten nicht dem Staat, sondern ihm selbst. Er ging daran, sie nach Strich und Faden auszupressen. Um 1900 drangen Berichte über die Schreckensherrschaft im „Freistaat Kongo“ nach draußen. Eine Untersuchungskommission hörte Hunderte Zeugen an und kam zu dem Schluss, dass Entführungen, Zwangsarbeit und brutale Gewalt an der Tagesordnung waren. Der Brüsseler Jurist Félicien Cattier zog daraus das Fazit, „dass der Kongo-Staat kein kolonisierter Staat ist, ja, dass er kaum ein Staat ist, sondern ein finanzielles Unternehmen“.
Leopold II. investierte viel Geld in diese Unternehmung und hatte Glück: In dem Moment, in dem der Elfenbeinnachschub nachließ, rief die Welt nach Gummi. Als der Gummi kein Thema mehr war, stellte sich heraus, dass der Kongo voller Erze ist, die Rohstoff-Schatzkammer der Erde. So ging es immer weiter, bis heute. Nur die Kongolesen selbst haben wenig von ihren Bodenschätzen, so wie die Internetnutzer wenig von ihren Daten haben, die andere schürfen.
So altmodisch ist das also vielleicht gar nicht, man sollte sich vom Dekor nicht täuschen lassen. Mit disruptiven Business-Ideen und günstigem Kapital schaffte es der belgische König, der lokalen Wirtschaft den Garaus zu machen und das Ganze noch als humane, fortschrittliche Maßnahme auszugeben. Bald lagen die Felder brach, wichtige Fähigkeiten und Kenntnisse der Afrikaner gingen verloren, als man sie zur Arbeit zwangsverpflichtete. Etwa die Hälfte der Einwohner, um die zehn Millionen Menschen, kamen unter dem Regime der leopoldschen Konzessionsgesellschaften zwischen 1898 und 1908 ums Leben. Erst dann sprang der belgische Staat für seinen König ein und kaufte die Kolonie, bis Kongo 1960 dann schließlich unabhängig wurde.
Es ist weniger die Grausamkeit des belgischen Kolonialismus, die einen überrascht, sondern die unternehmerische Arithmetik, mit der diese Grausamkeit für notwendig erklärt wurde. Das viel beschriebene Abhacken der Hände, mit dem Einheimische angeblich bei lebendigem Leib bestraft wurden, war eben kein atavistischer Exzess, sondern eine Maßnahme verbesserter Buchführung: Die lokalen Konzessionäre brauchten Beweise, dass sie mit den abgezählten Firmenpatronen auch wirklich jemanden erschossen hatten, anstatt es gegenüber der Geschäftsleitung in Brüssel nur zu behaupten. Auch Patronen kosteten Geld. Wie sonst sollte man ein so riesiges Land mit so wenig Personal kontrollieren, wenn nicht mit korrekter Buchführung?
Belgisch-Kongo war keine historische Anomalie, kein krudes Objekt unter Glas. Die Vorstellung, weite Teile der Welt mit einem einzigen, genialen Businessplan erobern zu können, ist heute weiter verbreitet denn je. Auch wenn die dabei gewonnenen Rohstoffe nicht mehr Elfenbein, Kautschuk oder Gold heißen, sondern Daten.