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Liverpool Mit Kultur aus der Krise

Kultur in Liverpool, wundert sich Europa und fragt sich: Was gibt's denn da überhaupt außer den Beatles, dem Beatles-Museum, dem Beatles-Trail und - hatten wir schon die Beatles erwähnt? Und doch wird Liverpool 2008 die Kulturhauptstadt Europas sein. In der Tat gibt es in der Gemeinde am Mersey längst ein quirliges Kulturleben.
Von Edgar Klüsener
Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv. Warum ist das wichtig?

Über Jahrzehnte hinweg war Liverpool das Synonym für Krise. Das lange Sterben der nordwestenglischen Hafenstadt hatte bereits in den frühen Fünfzigern begonnen. Zuerst verschwanden die Arbeitsplätze im Hafen, einst der größte Handelshafen Großbritanniens, heute nur noch ein mittelprächtiger Containerhafen. Dann starben die Werften. Was blieb, waren trostlose, heruntergekommene Arbeiterviertel, eine bankrotte Stadt in Agonie, die der Strukturwandel unvorbereitet getroffen hatte. Für die Industriestädte Europas wurde Liverpool zum Omen, das die eigene düstere Zukunft andeutete.

Auch als die konservative Thatcher-Revolution die britische Wirtschaft und Gesellschaft von Grund auf umkrempelte und dem Süden der Insel einen enormen ökonomischen Aufschwung bescherte, änderte sich in Liverpool nur wenig. Noch heute ist das Bild, das der Rest der Welt sich von der Stadt am Mersey macht, ganz simpel gezeichnet: Beatles, Fußball, Niedergang.

Kultur zahlt sich aus, und zwar gewaltig

Kultur, das haben Liverpools Oberen durchaus richtig erkannt, ist ein Wirtschaftszweig, der die darbende Mersey-Gemeinde endgültig aus der Krise führen könnte. Sehr aufmerksam haben sie verfolgt, wie sich in der Vergangenheit das schottische Glasgow - Europas Kulturhauptstadt 1990 - vom Armenhaus der Insel in eine moderne, attraktive und ökonomisch erfolgreiche Metropole verwandelt hatte. Sogar Erzrivalin Manchester, selbst für viele Jahre ein Synonym für Untergang, hat sich mit einer inspirierten Mischung aus aktiver Sportpolitik, gezielter Förderung von Klassik und Popkultur, von Zukunftsindustrien, Forschung und Lehre nicht nur achtbar vor dem Niedergang gerettet, sondern sich mittlerweile als glitzernde Metropole von Rang etablieren können.

Deswegen hat Liverpool Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um im Wettbewerb mit anderen britischen Städten den Titel "Europas Kulturhauptstadt" zu gewinnen. Sie muss nicht einmal neu erfunden werden. Mit Stolz - und einigem Recht - verweisen Liverpooler auf die Tate Liverpool-Galerie, den Ableger der weltbekannten Londoner Tate-Galerie, die in einem liebevoll restaurierten Lagerhaus in den Albert Docks beheimatet ist. Oder auf das phantastische architektonische Erbe aus einer Zeit, in der Liverpool zu den reichsten und mächtigsten Städten der Welt gehörte - nicht zuletzt wegen des Sklavenhandels mit der Neuen Welt, dem Liverpool als Heimathafen diente und der den ehedem immensen Wohlstand der Stadt mitbegründet hatte.

Das Hollywood Großbritanniens

Oder auf die Biennale, das Liverpooler Festival für Moderne Kunst, das sich rasant zu einem der herausragenden Ereignisse des europäischen Kulturkalenders entwickelt. Hinzu kommen Museen, Galerien und mit dem Royal Liverpool Philharmonic Orchestra außerdem ein international renommiertes Orchester. Rund 50.000 Studenten und Heerscharen von Jugendlichen aus einem weiten Umkreis sowie Clubs wie das "Cream" machen Liverpool zur Nacht-Metropole, deren Ruf bis nach London strahlt.

Außerdem ist da noch die aufstrebende Filmindustrie. Die alte Hafenstadt am Mersey und ihr Umland haben sich klammheimlich zum Hollywood Großbritanniens gemausert. In das auch Studios aus dem anderen Hollywood im sonnigen Kalifornien - angezogen von der beinahe perfekten Mischung aus deutlich niedrigeren Produktionskosten, modernster Technologie und gemeinsamer Sprache - mittlerweile prächtig investieren. Rund 1000 Produktionen entstehen hier pro Jahr, vom simplen Pop-Video bis hin zum Hollywood-Kassenschlager.

Für den Boom der bewegten Bilder ist maßgeblich das Liverpool Film Office mitverantwortlich: gegründet 1989 und seinerzeit das Erste im gesamten Königreich. Das Amt schaffte es, Produktionen und Kreative in die Stadt zu locken. Folgeeffekt: Im Jahr 2002 hat die Filmindustrie alleine Investitionen von zwölf Millionen Pfund (circa 18 Millionen Euro) in die Stadt gesaugt. Die Filmindustrie inbegriffen beschäftigt der Wirtschaftszweig Kultur schon jetzt über 20.000 Menschen in der Region.

Schmelztiegel Liverpool

Aber, darauf weist Ratsherr Mike Storey hin, das alles sei nur eine Seite eines verblüffend vielfältigen Liverpooler Kulturlebens. Die andere sei die immense Bandbreite der verschiedenen ethnischen und kulturellen Minderheiten in der Stadt. Storey ist einer der Verantwortlichen für die Metamorphose der Mersey-Metropole vom Trauerfall in eine blühende Metropole.

Liverpool beherbergt die älteste - und eine der reichsten - chinesische Gemeinschaft Europas, war die erste Stadt Europas mit einer nennenswerten afrikanischen und karibischen Bevölkerung und hat in den letzten drei Jahrhunderten zahllose italienische, deutsche, polnische und viele andere europäische und asiatische Einwanderer geschluckt. Außerdem noch zigtausende Iren. Weswegen Liverpool auf beiden Seiten der irischen See als heimliche Hauptstadt Irlands gilt. Der Schmelztiegel Liverpool ist älter als der Schmelztiegel New York, sagt Storey und erklärt, das Miteinander der Kulturen möge zwar bis in die jüngste Vergangenheit hinein oft auch ein Gegen- oder Nebeneinander gewesen sein, geprägt habe es die Stadt trotzdem bis ins Innerste.

Kultur zieht Wirtschaft an, Wirtschaft schafft Arbeitsplätze und Kaufkraft, Kaufkraft wiederum fließt auch in Kunst und Kultur. So die Gleichung, die nur auf den ersten Blick nach Milchmädchen aussieht. Mit mindestens 14.000 neuen Arbeitsplätzen rechnet David Henshaw, als Exekutiv-Chef des Liverpooler Stadtrates einer der Köpfe des Projekts, ganz nüchtern. Außerdem mit einer erheblichen Verbesserung der urbanen und regionalen Siedlungs- und Verkehrs-Infrastruktur, Ausbau des John Lennon Flughafens inbegriffen.

Abnabelung vom Hauptstadtmoloch als ehrgeiziges Ziel

Schon jetzt ist die Mersey-Metropole eine Fremdenverkehrsmetropole, die jedes Jahr Hunderttausende anzieht. Je vielfältiger das kulturelle Angebot, so die simple Rechnung, desto höher die Besucherzahlen. Und desto größer der Bedarf an Hotels, Restaurants, Bars, Taxis, Bussen - und eben Arbeitskräften. Bis 2008 soll nach den Plänen der Verantwortlichen allerdings noch einiges passieren, nicht nur die Ansiedlung weiterer Kulturbetriebe, der Bau einer großen multifunktionalen Veranstaltungsarena, sondern auch die Revitalisierung und Umgestaltung von Problemzonen der Stadt.

Liverpool will zurück in die Liga großartiger europäischer Kultur-Metropolen, gleichrangig mit Barcelona, der deutschen Partnerstadt Köln, mit Amsterdam oder Prag. Das ist das eine Ziel, das 2008 verwirklicht werden soll. Über das andere, wohl noch ehrgeizigere Ziel, spricht Henshaw in leiseren Tönen: die Loslösung von London. Die Abnabelung von der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Zentralgewalt, dem Hauptstadtmoloch, der über Jahrzehnte hinweg die kreativen Eliten der Insel in seine Mauern gezogen und die Regionen ausgeblutet hat, ist der ganz große politische Wurf, auf den nicht nur die Liverpooler Stadtväter hinarbeiten, sondern der gesamte Nordwesten Englands.

Das Modell des deutschen Föderalismus mit seinen Bundesländern ist das Vorbild für die Loslösung von der Zentralgewalt. Am Ende soll ein unabhängiger Nordwesten - mit den Schwesterstädten Liverpool und Manchester als Schwerkraftzentrum - mit eigener Regierung und eigenem Parlament einen kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Gegenpol zum ungeliebten London bilden. Wenn der Weg dahin über die Kulturhauptstadt Europas führt, soll's den Liverpoolern nur Recht sein.

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