Neulich war es wieder da, dieses miese Gefühl. An ihrem 45. Geburtstag wollte Phuong Kollath es sich mit ihrem deutschen Freund bei einem Frühstück in einem noblen Rostocker Hotel so richtig gemütlich machen. Doch als sie mit ihrem schönsten Kleid da stand in der Lobby und die abschätzigen Blicke der anderen Gäste spürte, war es mit der fröhlichen Geburtstagsstimmung vorbei. "Ich lebe seit 27 Jahren in Deutschland, ich habe hier studiert, ich habe einen Job als Sozialarbeiterin, ich zahle Steuern und dennoch - ich bleibe die Vietnamesin, die Fremde. Das tut weh."
Phuong Kollath hat immer wieder gegen dieses Fremdsein gekämpft. "Bis zur Wende 1989 waren wir mit 60.000 Landsleuten in der DDR die zahlenmäßig größte Ausländergruppe. Aber irgendwie hat uns kaum einer als individuelle Persönlichkeiten wahrgenommen. Bis heute hat sich daran wenig geändert", ist ihr Eindruck.
Tatsächlich sind die rund 24.000 Vietnamesen, die derzeit in den fünf neuen Bundesländern leben, immer noch die größte Migrantengruppe. In der öffentlichen Wahrnehmung spielen sie allerdings kaum eine Rolle - und wenn doch, dann meist in den Klischees: still, freundlich, fleißig, aber doch irgendwie suspekt.
"Ich sah mich als Managerin"
Phuong ist 17, als ihre Mutter ihr das erste Mal vom fernen, reichen Bruderland in Europa erzählt, vom Abkommen, das die Entsendung vietnamesischer Arbeitskräfte in die Deutsche Demokratische Republik regelt und von den unendlichen Möglichkeiten, die sich einer jungen Vietnamesin bieten, wenn sie das Angebot annimmt, sich für vier oder fünf Jahre als Vertragsarbeiterin in einem ostdeutschen Betrieb zu verpflichten. Phuong ist begeistert. Vergessen ist die Bewerbung fürs Medizinstudium in Vietnam. Am 28. Juli 1881 steigt sie in Hanoi in den Flieger, der sie nach Ostberlin bringen wird. Ihr Ziel ist Rostock. Sie hat ein paar Fotos ihrer Familie im Koffer, ihre Tagebücher und einen Traum: "Ich war mir sicher, die DDR ist ein Paradies, in dem alle Menschen glücklich sind und ich würde mittendrin sein."
Was genau sie eigentlich in Rostock machen würde, hatte ihr zwar keiner gesagt. "Aber irgendwas im Tourismus sollte es sein. Ich sah mich schon als Managerin in einem Hotel, als Betreuerin für Urlauber oder etwas Ähnliches."
Doch die Arbeitsvermittler haben etwas anderes mit ihr vor. Phuong wird mit den anderen Neuankömmlingen zum Rostocker Hafen gebracht. Sie lernen den Dolmetscher kennen, den Betreuer und den Parteisekretär. Der lobt die Freundschaft beider Völker, die Solidarität und den Aufbau des Sozialismus. Dann zeigt er, wo Phuong arbeiten wird. Es ist eine Großküche für die Hafenarbeiter am Rande der Stadt. Das Mädchen ist geschockt. "Ich habe immer wieder meinen Kopf auf den Tisch geschlagen und fürchterlich geweint", erinnert sie sich. Genutzt hat es nichts. In Phuongs Arbeitsvertrag stand, dass sie als "Herdhilfe" eingestellt wird.
Sie zieht mit fünf anderen Vietnamesinnen in eine Wohnung im elften Stock des Sonnenblumenhauses in Rostock-Lichtenhagen. Jenem Haus, das Jahre später wegen des Brandanschlages auf die dort lebenden Vietnamesen weltweit bekannt wird. Sie arbeitet im Schichtdienst und bekommt dafür monatlich 340 Mark. Außerdem darf sie Pakete in die Heimat schicken. Alle zwei Jahre eine große Holzkiste. Sie spart lange dafür und kauft schließlich, wie die anderen auch, Zucker, Kernseife, eine Strickmaschine und ein Fahrrad.
Arbeitskräfte für die DDR
Ab 1980 werden vietnamesische Arbeitskräfte für die DDR rekrutiert. Sie werden gebraucht, um in Zeiten wirtschaftlicher Prosperität den Bedarf an Arbeitskräften zu decken und die Produktivität zu erhöhen. Meist sind es Industriearbeiter oder landwirtschaftliche Kräfte. Aber auch Ärzte und Lehrer und viele Jugendliche, wie Phuong.
Vietnam verdient nicht schlecht an den Auslandsarbeitern. Immerhin gehen zwölf Prozent des jeweiligen Bruttolohnes in Devisen direkt an die vietnamesische Regierung. Phuong stört die Abgabenordnung nicht.
"Vietnam ist ein armes Land. Viele Frauen und Männer, vor allem die ganz jungen, haben damals die Chance gerne genutzt, nach Deutschland zu kommen und aus der Enge des vietnamesischen Alltags zu entfliehen", erzählt sie. "Außerdem konnten sie so die bedürftigen Familienangehörigen in der Heimat unterstützen. Für viele war das lebenswichtig." Dass die DDR-Wirtschaft den Waren-Bedarf ihrer ausländischen Vertragsarbeiter völlig unterschätzt und damit für reichlich Ärger in der Bevölkerung sorgt, zeigt sich in den Warteschlangen vor den Läden. Mitte der Achtziger hört Phuong dort immer häufiger das böse gezischelte: "Die Fidschis kaufen uns alles weg."
Persönliche Kontakte unerwünscht
Die junge Frau hätte den Deutschen damals gern erzählt, warum sie ihre Angehörigen in Vietnam unterstützen muss. Sie hätte gern viel mehr gemeinsame Erlebnisse mit den Deutschen gehabt, um das gegenseitige Verständnis zu wecken, doch offiziell waren persönliche Kontakte zwischen den Vertragsarbeitern und den DDR-Bürgern nicht erwünscht. In einer Studie der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) wurden 2007 im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung die Bedingungen und Vorschriften des Arbeitskräfte-Programms analysiert. Autor Bernd Wolf sagt: "Die Arbeiter wurden in firmeneigenen Wohnheimen untergebracht, überwacht und kontrolliert. Diese Kontrollen erstreckten sich auf alle Lebensbereiche, wodurch die Isolation noch verstärkt wurde."
Dass die billigen Arbeitskräfte auch eigene Vorstellungen von ihrem Leben als Vertragsarbeiter haben und dass diese Vorstellungen manchmal heftig mit denen der Regierung kollidieren, stellt Phuong schon bald fest. Sie verliebt sich, nachdem ihr Vertrag um zwei Jahre verlängert wurde, 1986 in einen deutschen Kollegen. "Für mich war klar, dass ich bei ihm bleiben will. Wir wollten heiraten und Kinder bekommen, einfach glücklich sein."
"Ich musste schwanger werden"
Doch so einfach, wie sie sich das vorstellt, ist es nicht. "Für die Bestätigung der Eheschließung forderte die vietnamesische Botschaft die Zustimmung meiner Eltern. Aber die bekam ich nicht, weil sie wollten, dass ich wieder nach Hause komme und einen Vietnamesen heirate, so wie es die Tradition verlangt." Phuong ist verzweifelt. "Ich wollte das mit aller Macht verhindern und wusste, es gab nur noch eine Chance für mich, in Deutschland bleiben zu können: Ich musste schwanger werden. Und ich wurde schwanger."
In den Verträgen zwischen Vietnam und der DDR war allerdings festgehalten, dass die Vietnamesinnen keine Kinder während ihres Aufenthaltes in der DDR bekommen durften. Wenn es dennoch passierte, gab es kein Pardon. Die Kinder mussten abgetrieben werden. "Wenn eine Kollegin eine Woche lang krank geschrieben war, wussten wir alle, dass sie in der Klinik lag wegen einer Abtreibung." Es waren viele Frauen krank in dieser Zeit, auch in Phuongs Betrieb. Sie selbst sagte niemandem etwas von ihrer Schwangerschaft. Sie zog sich weite Kleider an, schuftete im Vier-Schicht- System, manchmal schleppte sie zwölf Stunden lang die großen Töpfe in der Küche. "Erst als ich im siebten Monat schwanger und keine Zwangsabtreibung mehr möglich war, wagte ich, alles zuzugeben. Es gab einen Riesenärger. Der Parteisekretär wetterte, die DDR sei doch kein Selbstbedienungsladen. Er drohte, mich einfach ins nächste Flugzeug zu setzen. Aber es war ja nichts mehr zu ändern." Monate später bekommt Phuong doch noch das Einverständnis ihrer Eltern für die Hochzeit. Alles scheint gut zu werden.
8060 Ost-Mark Vertragsstrafe
8060 Ost-Mark muss das Paar an die vietnamesische Botschaft zahlen, nachdem es im September 1989 geheiratet hat. Es ist die Strafgebühr dafür, dass Phuong die Verpflichtungen aus ihrem Vertrag nicht eingehalten hat und nicht wieder nach Vietnam zurückkehrt. "Für uns war das ein Haufen Geld. Mein Mann hat seine Stereoanlage verkaufen müssen und das Moped. Ich wiederum habe alles verscherbelt, was ich irgendwie zu Geld machen konnte, bis wir nichts mehr hatten." Einen Monat später fällt die Mauer. Phuong sieht im Fernsehen die jubelnden Massen. "Ich habe mich so für die Deutschen gefreut, ich war total euphorisch und überzeugt, dass jetzt alles noch viel besser wird, als es ohnehin schon war."
Für die meisten vietnamesischen Vertragsarbeiter bricht jedoch erst einmal alles zusammen. Bernd Wolf von der GTZ stellt fest: "Nach Ablauf der aus der DDR-Zeit stammenden Arbeitsverträge waren sie ohne Aufenthaltsstatus. Ein Teil stellte einen Asylantrag. Andere erhoben Klage bei den Verwaltungsgerichten, nachdem ihre Aufenthaltsbewilligung nicht mehr verlängert wurde."
Täter und Opfer zugleich
Wolf sagt: "Eine zwangsweise Durchsetzung der Ausreisepflicht war den deutschen Behörden nicht möglich, da Vietnam das Einreisevisum nur dann ausstellte, wenn die Menschen freiwillig zurückkehrten." Die Bundesrepublik versuchte das heikle Problem zu lösen, indem sie den Vertragsarbeitern eine Abfindung von 3000 DM für die freiwillige Ausreise nach Vietnam anbot. Laut Studie gingen etwas mehr als die Hälfte der 60.000 Vietnamesen aus der Ex-DDR darauf ein. Allerdings habe es gleichzeitig einen illegalen Zuzug vietnamesischer Vertragsarbeiter aus der Sowjetunion, der Tschechei und Bulgarien nach Deutschland gegeben. Asylbewerber, die zwar abgelehnt, aber ebenfalls nicht abgeschoben werden konnten.
Es ist die Zeit, als die kleinen Chinapfanne-Imbissbuden wie Pilze aus dem Boden schießen. Als die vietnamesischen Gemüsehändler und Klamottenverkäufer zu jedem Wochenmarkt gehören, wie die Zigarettenschmuggler zu den Bahnhöfen. "Viele der Vietnamesen mussten ihre Existenz damals - und zu einem geringen Teil auch noch heute - durch illegalen Zigarettenhandel bestreiten und waren in mafiöse Strukturen eingebunden. Die Kriminalitätsrate stieg auf ein bis dahin unter Vietnamesen nicht gekanntes Niveau." Wolf meint: "Sie waren Täter und Opfer zugleich."
Brandsätze im Sonnenblumenhaus
Phuong und ihr Mann eröffnen im Sommer 1992 ein kleines Lokal nahe Rostock, das die Familie über Wasser halten soll. Nach ihrem täglichen Job in der Küche eines Kindergartens setzt sich Phuong abends in ihren alten Trabi und macht Nachtschicht im Lokal. Doch es kommen nicht genug zahlende Gäste. Stattdessen stehen junge Männer in Springerstiefeln am Zaun und rufen: "Deutschland den Deutschen" und "Ausländer raus".
"Ich habe anfangs überhaupt nicht verstanden, was das sollte und habe es auch überhaupt nicht auf mich bezogen", erinnert sich Phuong Kollath. Erst als im August die ausländerfeindlichen Krawalle in Rostock eskalieren und der Mob Brandsätze in das Sonnenblumenhaus wirft, wird ihr bewusst, dass auch die Vietnamesen mit dem Hass gemeint sind. "Ich hatte im Haus ja noch einige Bekannte und ehemalige Kollegen. Ich habe mich um sie gesorgt, es war einfach schrecklich."
Noch schlimmer sei es allerdings gewesen, dass die Kolleginnen im Kindergarten und ihre Wohnungsnachbarn die Vorfälle von Lichtenhagen einfach ignorierten. "Ich hätte mir gewünscht, dass mal einer fragt, wie es mir geht. Aber sie sagten nichts, als hätte es all die Vorfälle überhaupt nicht gegeben. Da ist mir bewusst geworden, dass mich hier keiner wollte, ich fühlte mich furchtbar allein. Doch wo sollte ich hin?"
Manchmal kommen die Zweifel
Phuong entscheidet sich zu kämpfen, für sich und für die anderen Vietnamesen in Deutschland. Im Rostocker Verein "Dien Hong" hilft sie Mitte der Neunziger mit, soziale Strukturen für ihre Landsleute und für andere Migranten zu schaffen. Bildungsangebote, Sprachkurse, Sozialberatung gehören nun genauso zu ihrem Alltag, wie die politischen Auseinandersetzungen mit der wachsenden Ausländerfeindlichkeit in Ostdeutschland. Dabei begegnet ihr ein Phänomen: "Ich hab immer wieder von meinen Landsleuten gehört, dass sie sich wegen der rechtsradikalen Angriffe auf Vietnamesen schämen. Sie sagen, es täte ihnen leid, dass sie als Zuwanderer Deutschland Kummer machen, dass sie für negative Schlagzeilen sorgen. Das ist doch verrückt, oder?"
Irgendwann zerbricht Phuongs Ehe, sie beginnt im Jahr 2000 endlich das langersehnte Studium der Erziehungswissenschaften, schließt es 2005 mit Bestnoten ab, zieht ihre Tochter allein groß und ist stolz, als das Mädchen ihr Abitur macht. Sie hat es geschafft in Deutschland, fühlt sich hier zu Hause und möchte in ihrer neuen Heimat alt werden. "Es hat zwar lange gedauert, aber irgendwie ist mein Traum, den ich als 17-Jährige hatte, doch in Erfüllung gegangen."